Kapitel zwei

Die Gardinen an dem Fenster des kleinen Reihenhauses bewegten sich. Der Abend war außergewöhnlich dunkel, und drinnen brannte keine Licht. Aber die Straßenlaterne neben der Pforte schien hinüber. So war es deutlich zu erkennen.

Dorothea Mallmann fasste die Greifreifen ihres Rollstuhls und wendete auf der Stelle, bis sie dem Fenster den Rücken bot. Sie schob sich nah an die Bordsteinkante. Unter den Rädern knirschte Streusalz, das nach dem ersten Schnee zurückgeblieben war.

Dorothea wusste, dass es nicht nur ein Luftzug war, der den Stoff bauschte. Es war ihre Mutter.

Mutter hatte die Lampen in den vorderen Zimmern ausgeschaltet, gleich nachdem Dorothea das Haus verlassen hatte. Nun stand sie am Wohnzimmerfenster und beobachtete ihre Tochter. Dorothea glaubte den Blick in ihrem Nacken zu spüren.

Mutter hatte dabei nichts Schlechtes im Sinn. Sie war von Grund auf gutmütig. Genau wie Vater.

Duldsam hatten sie beide Dorotheas rebellische Jahre an der Goethe ertragen. Und es war für sie keine Frage gewesen, wie es weitergehen sollte, nachdem Dorothea ihr aller Leben in einen Scherbenhaufen verwandelt hatte. Sie nahmen einen weiteren Kredit auf und bauten ihr Haus um, damit es für den Rollstuhl geeignet war.

Zwölf Jahre waren seitdem vergangen. Doch war in allem, was sie sagten, und in allem, was sie taten, noch die Angst zu spüren, dass wieder etwas geschehen könnte.

Mutter hatte bemerkt, dass der Tag besonders war. Sie wusste natürlich, dass heute das Klassentreffen stattfand. Doch schien sie zu ahnen, dass mehr dahintersteckte.

„Dorothea“, hatte sie immer wieder gebohrt, „Dorothea, warum bist du so seltsam? Dorothea, was ist denn heute los?“

Dorothea hasste es, wie Mutter ihren Vornamen benutzte, um sie heranzuziehen und zu belehren. Es war, als wolle Mutter sie in zu kleine Schuhe zwingen.

Sie hatte ihren Vornamen nie gemocht. Ihre Freunde nannten sie Doro. Allerdings hatte sie nicht mehr allzu viele Freunde seit damals.

Eigentlich war da nur Maggie. Margarete Stein. Seit ihrer Heirat Margarete Ziller.

In den vergangenen Wochen war Mutter nicht müde geworden, Dorothea das Klassentreffen auszureden. Sie meinte, dass es Dorothea nicht gut tue. Dass sie die Vergangenheit ruhen lassen solle.

Dorothea konnte die Angst ihrer Mutter verstehen. Doch fühlte sie, wie diese Angst sie in der Vergangenheit festhielt. Und das war ihr unerträglich.

Sie wollte in ihrem Leben ein neues Kapitel beginnen. Sie hatte einen Abschluss für das Lehramt in Deutsch und Geschichte. Sie hatte bereits ein Stellenangebot ausgeschlagen.

Mutter konnte nicht wissen, was Dorothea an diesem Abend vorhatte. Doch sie war ihr auf der Spur. Sicherlich bedurfte es nur eines geringen Anlasses, und sie würde aus dem Haus kommen und versuchen, Dorothea zurückzuholen.

Deshalb durfte sie nicht in das angespannte Gesicht sehen. Schon immer konnte sie darin lesen wie in einem offenen Buch.

Es war zwanzig nach acht. Dorothea beobachtete die Zufahrt zu der Straße, die das in die Jahre gekommene Wohngebiet als Ring umschloss. Von dort musste Maggie kommen.

Ausgerechnet heute verspätete Maggie sich. Es mochte am Verkehr liegen, der am Samstagabend des letzten Adventswochenendes außergewöhnlich dicht aus der Stadt drängte. Und Maggie war eine vorsichtige Fahrerin und hielt sich an alle Regeln.

Maggie war überhaupt sehr vorsichtig. Die typische Finanzbeamtin, wie sie selbst meinte.

Nur einmal sei sie ein Wagnis eingegangen. Nämlich als sie heiratete und die Kinder bekam. Den Preis dafür zahle sie, indem sie im Dauerbetrieb als Servicekraft für einen großen Jungen und zwei quengelige Vorschulzwerge arbeite. Es gebe Momente, da glaube sie, alle drei hätten kein Gehirn, sondern Wolle im Kopf. Manchmal sehne sie schon am Freitagnachmittag den Montag herbei, damit sie hinaus kam, sei es auch nur für ein paar Stunden.

Dorothea wurde nervös. Ihr war klar, dass ihr Plan ohne Maggie nicht aufging. Doch die wusste noch nicht, welche Rolle Dorothea ihr zugedacht hatte.

Maggie würde an die Decke gehen, wenn sie es erfuhr. Sie zu überzeugen musste schon deswegen schwierig werden, weil die Vorsicht so tief in ihrem Wesen wurzelte. Vielleicht hatte Dorothea diese Vorsicht unterschätzt.

Seit Dorothea sich gedreht hatte, blies ihr der kalte Dezemberwind ins Gesicht. Sie verkroch das Kinn im Kragen ihres Pullovers. Sie zitterte am ganzen Leib.

Sie fror schnell. Sie war dünn geworden, nachdem sie ihre Beine verloren hatte. Durch ihre Haut zeichneten sich die Knochen ab. In den ersten Wochen hatte sie sich geweigert zu essen. Deshalb hatte man sie über eine Magensonde ernährt.

Ihr Vater sagte, sie müsse zulegen, wenn sie einen Mann finden wolle. Und sie solle ihr Haar, das sie seither kurz schor, wieder wachsen lassen. Natürlich war dies Ausdruck seiner Sorge. Doch es zeigte auch, dass er keine Vorstellung davon hatte, wie es in ihr aussah.

Für Dorothea war klar, dass sich kein Mann jemals mehr für sie interessieren würde. Es war ihr nie wichtig gewesen, den Menschen zu gefallen. Nun stieß sie alle von sich. Sie kehrte ein schroffes Wesen nach außen, das es jedem verleiden musste, ihr nahe zu kommen.

Nach der Vorhersage sollte das Wetter umschlagen. Es sollte einen Sturm geben. In der Luft lag ein Brausen.

Dorothea fühlte die Veränderung schon den ganzen Tag. Früher hatte sie es für Unsinn gehalten, wenn Menschen über ihre Wetterfühligkeit sprachen. Nun erlebte sie es selbst.

Sie spürte ein Ziehen und Kribbeln, als erwachten ihre Beine aus einer starren Haltung. Es ließ sie beinahe vergessen, dass die Ärzte ihre Beine über den Knien abgenommen hatten.

Dorothea zündete sich eine Zigarette an. In dem auffrischenden Wind war dies nicht einfach. Doch in ihrer dickköpfigen Art fummelte sie, bis sie es geschafft hatte.

Dabei war ihr klar, dass sie die Zigarette loswerden musste, sobald Maggie in Sichtweite kam. Maggie hasste es, wenn sie rauchte.

Zwei Scheinwerfer schwenkten in die Zufahrt. Quälend langsam krochen sie heran.

Dorothea wusste gleich, dass es Maggie war, auch wenn sie den Wagen in der Dunkelheit nicht erkennen konnte. Sie schnippte die kaum angerauchte Zigarette auf die Straße.

Kurz darauf hielt Maggies Volvo neben ihr. Ein Familienauto: Kombi. Zwei Kindersitze hinten. Im Kofferraum eine Decke für den Hund. Und überall Sand von den Spielplätzen der Frankfurter Vorstadt.

Maggie stieß die Fahrertür auf und zog sich am vorderen Holm hinaus. Sie hatte ein paar Kilo zu viel. Beide Schwangerschaften hatten ihr etwas Gewicht gelassen. Nach der zweiten hatte sie die Personenwaage in den Keller verbannt. Sie brauche Zucker, wenn ihre Nerven unter Beschuss seien, sagte sie. Und ihre Nerven waren ständig unter Beschuss.

Mit Maggie kamen einige Takte eines Madonna-Songs aus dem Wagen. Sie tauchte noch einmal hinein und schaltete aus.

Maggie hörte nur Musik aus den Achtzigern. Wham. a-ha. Bangles. Eurythmics. Simple Minds. Natürlich Cindy Lauper. Die Kassetten quollen aus allen Fächern des Volvo. Wenn Maggie allein fuhr, drehte sie auf und sang laut mit. Sie kannte alle Texte.

Zehn Jahre nach der Schule hatte sie noch dieselbe Fön-Frisur und dieselbe Vorliebe für Karotten-Jeans, übergroße Sweat-Shirts und Espandrilles. Auch ihre Sprache war die der Achtziger. Ihre Kinder plapperten alles nach. Fanden Dinge ‚geil‘ oder ‚astrein‘ oder ‚rattenscharf‘.

Das war Maggie. Für sie schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Sie verweigerte sich allem Neuen. Deswegen war es Dorothea leicht gefallen, sie zu einem Klassentreffen mit Achtziger-Jahre-Motto zu überreden.

„Alles erledigt“, schnaufte Maggie, als sie hoch kam. „Die Bühne ist aufgebaut. Musik und Licht funktionieren einwandfrei. Die Getränke sind da. Und Moses steht vor der Tür. Er hat Vicky1ens Bruder Benny mitgebracht. Dabei ist mir noch immer nicht klar, warum es dir so wichtig war, dass wir überhaupt einen Türsteher haben. Ich habe eben noch die Disco-Kugel hingebracht, von der ich dir erzählt habe. Zwar ätzende Siebziger, aber doch geil. Wir haben sie zwischen die Turnseile gehängt. Es sind schon einige Leute da. Die ersten kamen um Viertel vor acht. Die konnten es nicht erwarten. Jetzt sollte alles rund laufen. Hoffentlich spielt das Wetter mit. Wenn über uns der Sturm zieht, den sie angekündigt haben, ist unsere Außen-Deko im Eimer. Außerdem werden einige Schlaffis lieber zu Hause bleiben.“

Dorothea hatte nicht zugehört. Sie überlegte, wie sie ihre Beichte beginnen sollte.

„Welche Außen-Deko?“

„Hallo, Doro!“, rief Maggie. „Jemand zu Hause? Unsere Außen-Deko. Unser mega-cooles Motto-Transparent. ‚Zurück in die 80er – Abi 86‘. Regenbogenschrift auf 80er-Grün. Made by Vicky1, Copy-Shop Liebig-Straße.“

Vicky1. Viktoria Müller.

Sie war eine von zwei Viktorias im Jahrgang. Als sie an die Goethe kamen, trugen beide bereits den Kurznamen Vicky. Deshalb bekamen sie Nummern.

Vicky1 war vom Typ schön-reich-wichtig, ein echter Star. Und wie alle Stars war sie nach dem Abitur mit großem Tamtam losgezogen, um die Welt zu erobern. Dann aber schlüpfte sie leise und bescheiden irgendwo am Wegesrand unter.

Eigentlich wollte sie Unternehmensberaterin werden und an der Frankfurter Hochfinanz verdienen. Aber im BWL-Studium scheiterte sie an Mathematik. Sie zog die Notbremse und bekam ein Kind und einen Mann. In dieser Reihenfolge. Die Ehe hielt nicht. Damit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten konnte, finanzierte ihr Vater den Copy-Shop.

Es war Zufall, dass Maggie ausgerechnet in diesen Copy-Shop trat, als sie das Motto-Transparent besorgen wollte. Vicky1 war begeistert von dem Klassentreffen. Sofort markierte sie den Termin in ihrem Kalender. Für das Transparent nahm sie kein Geld. Sie wollte es spenden.

„Zurück in die 80er, klar“, sagte Dorothea.

„Moses und ich, wir haben das Teil richtig festgezurrt“, sagte Maggie. „Aber bei Sturm hält es vielleicht doch nicht.“

Dann stutzte sie. Ihr Blick heftete sich auf einen Punkt hinter Dorothea. Ihr Lächeln erstarrte.

„Da steht deine Mutter hinter der Gardine und beobachtet uns.“

„Ich weiß. Das nervt, oder?“

„Hoffentlich werde ich niemals so hinter der Gardine stehen und meine Söhne beobachten. Und meine Söhne bemerken es natürlich, und sie wollen die ganze Zeit nur endlich weg von ihrer Mutter.“

„Also lass uns endlich weg von hier.“

Maggie war um den Wagen herumgekommen. Sie beugte sich zu Dorothea hinunter und umarmte sie.

„Hey, Kleines.“

Maggie war ein halbes Jahr jünger als Dorothea. Doch seit sie Mutter war, fühlte sie sich als die Große.

„Und glaube nicht, mir entgeht, dass du geraucht hast. Nur damit du‘s weißt.“

„Tut mir leid.“

„Tut - mir - leid“, wiederholte Maggie.

Sie trat einen Schritt zurück und überlegte. Mit der Mutterschaft hatte sie besondere Antennen ausgebildet, mit denen sie schnell erfasste, wenn etwas nicht stimmte. Und diese Antennen meldeten sich nun.

Schließlich machte sie ihr Gefühl an Dorotheas Kleidung fest. Die war wie immer: Jeans, Pullover, Outdoor-Jacke.

„Wo ist dein Kostüm?“

Das war der Moment. Es musste heraus.

„Ich … Ich habe keins“, sagte Dorothea mit einer Stimme, die ihr selbst fremd erschien.

„Verstehe ich nicht. Zuerst bequatschst du mich, damit ich diese Motto-Feier organisiere. Und wenn es soweit ist, hängst du durch?“

„Ich brauche mich nicht zu kostümieren, weil …“

„Wenn du jetzt Angst vor der Sache bekommst, war der ganze Aufwand umsonst. Hättest du dir das nicht früher überlegen können? Ich habe es dir gleich gesagt. Ich meine: Ich habe sowieso nicht verstanden, warum dir die Feier so wichtig ist. Ein Klassentreffen, das nicht mal deins ist. Du hast dein Abi nicht an der Goethe gemacht. Und du magst die meisten Leute nicht einmal, und - hallo? - sie mögen dich auch nicht. Jedenfalls nicht nach der Nummer damals. Was hast du dir gedacht? Du tauchst nach zwölf Jahren auf, und alle finden plötzlich gut, was damals geschehen ist?“

„Ich brauche mich nicht zu kostümieren, weil mich niemand sehen wird. Ich habe nicht vor, dabei zu sein. Du bringst mich von hinten in die Schwimmhalle, und zwar so, dass es niemand bemerkt.“

Maggie blickte verständnislos.

„Spiel keine Spielchen mit mir. Dafür habe ich nicht den Nerv. Ich bin total alle nach dem ganzen Stress.“

„Ich habe dir gesagt, dass ich das Klassentreffen brauche, um wieder in die Spur zu kommen. Dass ich damals zu schnell verschwunden bin. Dass für mich noch alles in der Luft hängt. Und ich zurück muss, um damit abzuschließen.“

„Das hast du. Aber wenn du diesen Punkt schon ansprichst: So zu denken sieht dir nicht ähnlich. Das erklärt es nicht wirklich. Ich habe nur nicht nachgebohrt.“

„Die Wahrheit ist: Ich habe dich belogen, Maggie. Die Goethe ist mir egal. Die Leute von damals sind mir egal. Die Feier ist mir egal. Es geht mir nur um Sebastian und El.“

„Aber die sind doch gar nicht eingeladen. Weil sie nicht zum Abschluss-Jahrgang 1986 der Goethe gehören.“

„Sind sie doch. Von mir.“

„Du hast … Also … Es geht dir nur um Sebastian und El.“

Es geschah nicht oft, dass Maggie böse wurde. Doch nun war es so. „Ich reiße mir den Hintern auf, damit du deine Feier hast. Ich lasse mich zur Galionsfigur machen, damit du im Hintergrund bleiben kannst, weil du sagst, dass ja vielleicht niemand kommen mag, wenn die Feier deine Idee ist. Und da ist auch was dran. Denn du gehörst nicht dazu. Und ganz egal, an welche Wahrheit sie glauben: Sie halten dich nicht für ein Opfer. Ich fahre hierhin und dorthin und besorge den ganzen Kram. Ich organisiere und verhandle und schreibe Einladungen und dekoriere und schleppe und schwitze, damit jeder i-Punkt sitzt. Und alles wenige Tage vor Weihnachten. Weißt du eigentlich, was das bedeutet, wenn du Kinder hast? Nein, das weißt du natürlich nicht. Alle sind mit den Nerven durch. Steffen mault schon die ganze Woche, weil er am Wochenende auf die Jungs aufpassen soll. Ich tue das alles für dich. Und du sagst mir, dass du mich belogen hast? Benutzt? Und warum? Um noch einen Anlauf bei Sebastian zu machen?“

Maggie schnappte nach Luft.

„Ich glaube … Ich glaube, ich steige gleich wieder in mein Auto und lasse dich hier sitzen und fahre nach Hause, wo ich hingehöre!“

„Bitte, Maggie …“

„Spannst du es nicht? Er will nichts von dir wissen. Er wollte noch nie etwas von dir wissen. Er wollte immer und immer nur El. Aber – tut mir leid, Kleines – das hast du zerstört.“

In jähem Zorn warf Maggie die Beifahrertür zu, die sie bereits geöffnet hatte, damit Dorothea einsteigen konnte. Sie ging wieder auf die andere Seite des Wagens.

„Also wirklich: Ich fahre jetzt.“

„Maggie, bleib!“, rief Dorothea. „Diese Feier ist lebenswichtig für mich. Du hast so viel für mich getan. Ich bin dir dankbar für alles. Ich weiß, dass nichts davon selbstverständlich ist. Und deshalb tut es mir leid, dass ich gelogen habe.“

„Du brauchst nicht zu denken, dass du mich wieder um den Finger wickeln kannst, wie du so dasitzt ohne Beine. Das funktioniert nicht. Auch ein Schaf wie ich lernt dazu. Deine Aktion damals war total ungeil. Und jetzt fängst du die Geschichte von vorn an!“

„Es geht mir nicht um Sebastian. Das heißt: Eigentlich schon. Aber nicht so, wie du denkst. Ich will El und ihn wieder zusammenbringen.“

„Ha!“, machte Maggie. „Du erwartest doch nicht, dass ich dir das abkaufe? Das ist …“

Sie sah in Dorotheas Augen, und sie stutzte. Denn diese Augen ließen keinen Zweifel, dass Dorothea es ernst meinte.

„Das ist … Das ist … Bullshit! Wenn das wirklich dein Ernst ist … fällt mir dazu nichts ein. Oder doch: Irre! Wahnsinn! Unmöglich! Du spinnst ja! Jetzt drehst du voll am Rad!“

„Ich muss das schaffen. Ich muss.“ In Dorotheas Stimme war ein eigenartiges Zittern. „Sonst hört es nie auf. Ich muss das mit den beiden ins Reine bringen.“

Unwillkürlich näherte Maggie sich wieder.

„Du … Ich meine: Du hast ja recht. Aber du bist zwölf Jahre zu spät dran. Tut mir leid. Das ist vorbei. Außerdem werden die gar nicht kommen. Warum sollten sie?“

„Weil ich ihnen ja geschrieben habe.“

„Ach so. Du hast ihnen geschrieben. Du lädst sie zu einem Klassentreffen ein, zwölf Jahre, nachdem du ihre Beziehung zerstört hast – oder lass mich da präzise sein: zwölf Jahre, nachdem du allen erzählt hast, Sebastian betrüge El, nämlich mit dir, und er habe sich von dir abgewendet, als du von ihm verlangt hast, ehrlich zu El zu sein; und als alles anders lief, als du es dir gedacht hattest, bist du vom Drei-Meter-Brett gesprungen, allerdings in ein Schwimmbecken ohne Wasser, was dich beide Beine gekostet hat. Also nach all dem schickst du diese Einladungen, und die beiden haben natürlich nichts Besseres zu tun, als dir zuliebe zu einem Klassentreffen zu kommen, wo sie genauso wenig wie du etwas verloren haben, weil sie nach deiner Aktion damals ebenfalls nicht an der Goethe geblieben sind. Und meine Rolle … meine Rolle in der ganzen Sache ist klein und kaum erwähnenswert: Ich war nur das dumme Schaf, das trotz allem immer zu dir gehalten und dich hochgeholt hat, wenn du unten warst – und du warst oft unten – und dich verteidigt hat und geliebt wie eine Schwester. Aber weißt du: Mir ging es damals auch schlecht. Sie waren auch meine Freunde. Und es hat mir das Herz gebrochen, was du ihnen angetan hast.“

Maggie stand nun dicht vor dem Rollstuhl. In ihrem Gesicht arbeitete es. Ihre Brauen zogen sich zusammen. Ihre Lippen wurden schmal.

„Ich wollte es dir eigentlich nicht erzählen. Aber ich habe noch etwas anderes getan heute Nachmittag in der Goethe. Ich bin durch die Gänge gelaufen. Es war niemand dort außer mir. Ich fühlte mich wie früher. Als wäre alles, was seither geschehen ist, nicht geschehen. Ich lief eine ganze Weile, bis mir klar wurde, dass ich ein Ziel hatte. Dann ging ich nach oben in den Gang mit den Fotos und habe es mir angesehen. Weißt du: das Foto, das du kurz vor unserer Theateraufführung geschossen hast. Becker und die ganze Truppe. Sebastian und El als Romeo und Julia. Weil ich es verstehen wollte. Ich wollte verstehen, wie es geschehen kann, dass zwei Menschen, die wirklich und wahrhaftig zusammengehören … dass diese Menschen nicht mehr zusammen sind. Ich denke, sie haben das damals nicht gespielt. Sie waren es. Sie waren Romeo und Julia.“

„Ich weiß.“

„Ach, und was ich noch gar nicht erwähnt habe: Ich hörte, dass El kurz vor dem Abflug nach London steht. Und wenn ich sage ‚kurz‘, meine ich buchstäblich kurz. Wenige Tage. Nämlich sobald Weihnachten durch die Tür ist. Und sie geht auch nicht allein, sondern mit ihrem Partner, den sie natürlich heiraten wird. Und nebenbei bemerkt kennen wir ihren Partner auch. Denn es ist Dietrich, Dietrich Lindner, der schon damals auf El abgefahren ist. Und der sie mit deiner Hilfe auch bekommen hat. Und – sie – festhalten – wird. Außerdem ist El mittlerweile eine große Nummer in Papas Kanzlei und hat sicherlich kaum Zeit zu atmen, geschweige denn Zeit für ein beknacktes Klassentreffen.“

„Ich weiß das alles.“

„Und Sebastian? Sebastian lebt in Afrika, also am Ende der Welt. Und wie ich gehört habe, hat er dort eine Frau und ein Kind und lebt glücklich bis an sein Lebensende. So!“

Wie zur Bestätigung schlug Maggie mit den Händen auf ihre Oberschenkel.

„Aber du hast ihnen ja geschrieben. Und sie schmeißen natürlich sofort alles hin und kommen in die Goethe, wenn du sie zu einem beschissenen Klassentreffen ein paar beschissene Tage vor Stress-hoch-zehn-Weihnachten einlädst, und sie noch nicht einmal zum Abschluss-Jahrgang gehören. Habe ich etwas vergessen?“

„Sei mir nicht böse, Maggie. Aber ich muss dir noch etwas sagen. Ich habe sie nicht nur eingeladen. Das heißt, El habe ich zuerst eine Einladung geschickt. Und Lindner auch, damit es nicht auffällt. Aber eigentlich habe ich Sebastian und El Briefe geschrieben. Ich habe ihnen geschrieben … dass ich heute Abend zu Ende bringen werde, was damals nicht geklappt hat … dass ich so nicht weiterleben kann.“

Maggie schien zu taumeln. Ihre Hand suchte die Motorhaube des Volvo.

„Also … Also ich … Ich bin jetzt wirklich raus aus der Sache. Das ist nicht mehr mein Ding.“

Dorothea schob sich mit dem Rollstuhl nah an ihre Freundin. Das Zittern in ihrer Stimme war so mächtig geworden, dass es die Worte, die aus ihrem Mund drängten, zu zerbrechen drohte.

„Ich weiß, was ich damals getan habe. Ich habe das Leben aller Menschen um mich herum zerstört. Els. Sebastians. Deins. Und auch meins. Und natürlich das meiner Eltern. Ich weiß das genau. Ich erinnere mich gut an diese Theateraufführung. Ein verfluchter Abend. Als ich Sebastian und El auf der Bühne sah, da wusste ich es. Da wusste ich, dass sie zusammengehörten. Dass ich ihn niemals haben würde. Und diese Erkenntnis setzte etwas in mir in Bewegung. Wie ein Auslöser. Wie der Abzug einer Waffe. Gegen alle Vernunft. Ohne Hoffnung. Und ohne Mitgefühl. Ohne Erbarmen. Es kehrte mein Innerstes nach außen. Und das war Verzweiflung, Hass, Dunkelheit. An diesem Abend fasste ich den Entschluss, mit einer Lüge auszusprechen, was ich nicht in Liebe aussprechen konnte. Mit einer schrecklichen Lüge. Und gleich am nächsten Morgen habe ich es getan. Und ja: Ich wollte in diesem Moment, dass El ihn auch nicht mehr hatte, wenn ich ihn nicht haben sollte.“

Dorothea zwang ein Schluchzen hinunter, ein tränenloses, trockenes Schluchzen. Doch es kam wieder hoch, immer wieder, wie ein Schluckauf, der nicht aufhören will.

„An diesem Morgen, in der Schule … Ich beschuldigte Sebastian … Und alle tickten aus. Sie gingen auf ihn los. Es war wie eine Explosion. Die Lehrer mussten dazwischen gehen. Und El … Sie ist an diesem Morgen nicht in die Schule gekommen. Sie war im Krankenhaus. Bei ihrer Mutter, der es schlecht ging. Und während sie um ihre Mutter kämpfte, habe ich ihr Sebastian genommen. Ich habe sie und Sebastian auseinandergerissen. Obwohl sie zusammengehörten wie niemand sonst auf der Welt. – Als mir klar wurde, was ich den beiden angetan hatte, wurde ich wahnsinnig. Ich konnte es nicht zurücknehmen, es nicht ungeschehen machen. Es gab nichts, was ich tun konnte. Ich fühlte nur noch diese Schuld. Sie war schwer, so schwer, dass sie mich erdrückte. Ich konnte nicht mehr denken, nicht mehr atmen. Bald wollte ich nur noch, dass es aufhört. Und da bin ich gesprungen. Ich habe nicht wirklich darüber nachgedacht. Sonst hätte ich vorausgesehen, dass es dadurch nur schlimmer wurde, für alle. In meinem Leben danach gab es nur Schmerz und Qual und Diskussionen – und aber immer noch diese Schuld.“

Dorothea rang nach Worten. Ihre Hände strichen ruhelos über die Greifreifen des Rollstuhls. Ihr Blick glitt über das Bordsteinpflaster. Sie wirkte noch dünner als sonst, ein ausgezehrter Körper, zusammengesunken wie unter einer schweren Last.

„El ging ohne ein Wort. Sie ging in dieses Internat. Ich habe ihr geschrieben, um es zu erklären. Sie hat nicht geantwortet. Und das konnte ich auch nicht erwarten. Ich weiß, dass El und Dietrich nun ein Paar sind. Und ich weiß, dass sie nach London ziehen. Ich habe El gesehen. Letzte Woche, vor der Kanzlei ihres Vaters. Sie hat mich nicht bemerkt. Ich habe mich auf der anderen Straßenseite versteckt. Sie wirkt anders als früher. Hart. Unglücklich.“

Dorothea kämpfte wieder mit jenem Schluchzen.

„Und Sebastian … Ich weiß, dass er damals in die Hölle fiel. Weil alle an der Schule ihn angriffen. Dabei hatte er ja nichts Unrechtes getan. Nur Becker hielt zu ihm. Und natürlich Moses. Ich habe gehört, dass ihn seine Mutter im Stich gelassen hat. Einfach so: Er kam nach Hause, und sie war fort. Medizinstudium. Ärzte ohne Grenzen. Ruanda. Und dort verliert sich die Spur. Am anderen Ende der Welt.“

Maggie hatte sie die ganze Zeit beobachtet. Ihr Blick war weich geworden. Ihre Finger spielten mit der Knotenkette, die sie um den Hals trug.

„Aber woher weißt du, dass deine Briefe angekommen sind? Woher weißt du, dass sie nicht längst irgendwo im Müll vergammeln? Und selbst wenn: Wieso denkst du, dass El und Sebastian kommen würden? Sie schulden dir nichts. Und woher weißt du …“

Maggie schluckte, ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. „Woher weißt du, dass Sebastian überhaupt noch lebt? Ich meine, wenn er wirklich nach Ruanda gegangen ist … Hast du nicht mitbekommen, was dort geschehen ist? Krieg und Flucht und Hunger. Unzählige Menschen tot. Männer, Frauen, Kinder.“

„Ich habe keine Antworten auf deine Fragen. Ich weiß es nicht. Ich hoffe …“

„Du müsstest dich selbst hören, Doro. Du würdest sofort begreifen, wie irre alles ist. Selbst wenn sie deine Briefe erhalten haben … Selbst wenn sie tatsächlich kommen wollten … Und du hast selbst gesagt, dass Sebastian am anderen Ende der Welt lebt. Also selbst wenn: Was erwartest du denn, wo doch beide ein neues Leben führen und gebunden sind, und zwar an andere?“

„Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich es versuchen muss. Sonst zerreißt es mich. Weißt du: Egal, was geschehen ist, welches Leid Sebastian und El erfahren haben … Irgendwie war ich die Ursache. Ich trage die Schuld an allem. Selbst daran, dass Els Mutter gestorben ist. Irgendwie. Und das mit meinen Beinen … Das ist nicht, weil ich gesprungen bin. Das ist meine Strafe.“

Maggie hatte plötzlich Tränen in den Augen.

„Verdammt … Verdammt. Warum tust du dir das an, Kleines?“

„Maggie, ich brauche dich. Jetzt brauche ich dich. Ich fühle, dass ich heute alles in Ordnung bringen kann. Aber ich kann es nicht allein.“

„Verdammt.“

„Ich weiß.“

„Du hättest es mir trotzdem sagen müssen.“

„Ich weiß.“

„Du hättest es mir sagen müssen. Und dann hätte ich es dir ausgeredet. Außerdem glaube ich nicht, dass sie auftauchen. Ich glaube nicht, dass es läuft, wie du es dir denkst.“

„Ich brauche dich.“

„Ach, halt den Mund!“ Maggie öffnete die Beifahrertür. „Warum lasse ich mich immer zu allem überreden, ich rührseliges Schaf.“

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